Wie fundamentalistische Gemeinden und Freikirchen Menschen unter Druck setzen
Wenn mithilfe von Bibelstellen sowie theologischen Deutungen, Regeln und Handlungen Druck auf Menschen ausgeübt wird, wenn sie dadurch manipuliert, unterdrückt oder isoliert werden, dann spricht man von geistlichem Missbrauch. Dieser findet in vielen fundamentalistischen Gemeinden statt und beginnt häufig schon bei Kindern.
Und eigentlich befasst sich mein gesamter Blog mit diesem Thema, mit Indoktrination und Manipulation. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle nochmal eine Zusammenfassung von den Themen und Lebensbereichen geben, in denen geistlicher Missbrauch in vielen fundamentalistischen Gemeinden besonders stark ausgeprägt ist. Auch hier wieder der Hinweis: Ich schreibe über meine eigenen Erfahrungen in diversen Gemeinden sowie an einer Bibelschule und über Erlebnisse anderer Aussteiger*innen.
1. Identität: Selbstwert vs. sündiges Wesen
Nach dem wortwörtlichen Verständnis der Bibel wird der Mensch als sündiges Wesen geboren. Nur durch die Erlösung und Liebe Gottes wird ihm ein Wert beigemessen. Sein Bestreben hier auf Erden sollte es sein, Gott selbst die Steuerung fürs Leben übernehmen zu lassen und sich von der Sünde abzukehren. Der Anspruch ist, sich Gott unterzuordnen und ganz nach seinem Willen zu leben. Die Folgen sind Selbstverleugnung, Demut und Abhängigkeiten. Denn Talente und Fähigkeiten sind auf Gottes Gnade zurückzuführen, nicht auf Übung und Disziplin. Sie sollten für Gott eingesetzt werden, nicht zum eigenen Vergnügen. Persönliche Erfolge sind Geschenke Gottes, keine Folgen eigener Leistungen. Gelingen kann nur, was Gott möchte und ermöglicht. Der Mensch ist ganz und gar abhängig von seinem Willen und sollte sich in Bescheidenheit üben. Den Wunsch nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Lob gilt es zu „unterdrücken“ und mithilfe von Gebet loszuwerden. Ich weiß nicht, wie viele Predigten ich in meinem Leben zum Thema Selbstverleugnung gehört habe, darüber, wie wertlos, sündig und schlecht wir Menschen sind, wie unzulänglich und erbärmlich, verknüpft mit dem Aufruf, Gott mehr Raum im Leben zu geben und ihn wirken zu lassen. Wie oft in Kleingruppen hinterfragt wurde, ob wir mit der richtigen Motivation handeln, nämlich Gott zu ehren und nicht um unserer selbst willen. Und wie oft ich feststellen musste: Ich mache es auch für mich, für Aufmerksamkeit, für das gute Gefühl und weil es mir Spaß macht. Die Folge war ein schlechtes Gewissen, das zum stetigen Begleiter wurde und dafür sorgte, dass der Druck, mich selbst und seine Bedürfnisse zu verleugnen, noch größer wurde. Mein eigener Wille wurde unterdrückt und ich wurde noch manipulierbarer.
2. Der Körper: Geschlecht und Sexualität
Dem Thema Purity Culture habe ich vor einiger Zeit schon mal einen eigenen Artikel gewidmet. Dabei geht es darum, dass Christ*innen sich und ihren Körper reinhalten sollen. Dazu gehört u. a., sich „sittsam“ zu kleiden, um das andere Geschlecht (in der Regel das männliche) nicht in Versuchung zu führen, bis zur Hochzeit mit dem Sex zu warten und am besten auch nicht daran zu denken, und auf Masturbation zu verzichten. Das sind nicht nur Vorgaben, mit denen Christ*innen für sich allein zu kämpfen hat, beim Thema Sexualität greift in Gemeinden häufig auch ein gewisses Maß an Kontrolle. So habe ich selbst erlebt, wie auf freizügige Kleidung hingewiesen wurde, Paare nicht beieinander übernachten durften und denen, die schon vor der Hochzeit zusammengezogen waren, die Trauung verwehrt wurde. In diesen Fällen mischten sich Gemeindemitglieder oder Pfarrer sich in das Leben anderer ein und forderten die Unterwerfung unter die „biblischen“ Regeln.
Beim Thema Transgeschlechtlichkeit und Homosexualität gehen fundamentalistische Gemeinden häufig sogar noch einen Schritt weiter, denn beides kann bei einem wortwörtlichen Verständnis der Bibel nicht gutgeheißen werden. Es kommt zu Diskriminierungen und Isolation. Viele Betroffene wenden sich in diesem Fall wahrscheinlich von den jeweiligen Gruppierungen ab, doch es gibt auch solche, deren Wunsch nach geistlicher Gemeinschaft größer ist. Und diesen bleibt kaum etwas anderes übrig, als ihre Identität ein Stück weit zu unterdrücken. Denn ihre Bedürfnisse auszuleben, kommt in einer fundamentalistischen Gemeinde nicht in Frage. Oder aber sie nehmen das Angebot einiger Gemeinden an und gehen zur Seelsorge. Denn nach wie vor existiert die Vorstellung davon, dass sich Trans Personen und Homosexuelle für diesen „Lebensstil“ entscheiden und durch eine entsprechende „Therapie“ Teil der heteronormativen Gesellschaft und damit ein vollwertiges Mitglieder der Gemeinde werden können.
3. Angst als Antrieb für Gehorsam
Im christlichen Glauben spielt Angst eine zentrale Rolle: Angst vor der Strafe Gottes, vor Satan, bösen Geistern und Versuchungen und natürlich vor der Hölle. Und mit diesen Ängsten wird vor allem bei Kindern und Teenagern effektiv gespielt. Schon als kleines Mädchen wurde mir eingetrichtert, dass Geschichten von Hexen, Zauberern und Magie Versuchungen des Teufels sind und dazu führen, dass Dämonen von mir Besitz ergreifen. Ich hielt mich von allem fern, was auch nur im Ansatz zur okkulten Belastung führen könnte, und holte mir bei ausgeliehen Büchern lieber vorher die Erlaubnis ein, sie auch lesen zu dürfen.
Zudem wurden sowohl zuhause als auch im Kindergottesdienst und in der Jungschar häufig Bibelgeschichten vorgelesen, in denen für mich die strafende Seite Gottes im Mittelpunkt stand: die Sintflut, die fast die gesamte Menschheit dahinrafft, die Zerstörung von Sodom und Gomorra und Lots Frau, die zur Salzsäule erstarrt, oder die 10 Plagen in Ägypten. Ich hatte ständig Angst davor, etwas Falsches zu tun, einen Fehler zu machen und damit Gottes Zorn auf mich zu lenken. Auch als ich älter wurde, wurde in meiner Gemeinde gerne darauf hingewiesen, dass Gott nicht nur der liebende Vater ist, sondern auch der allmächtige Herrscher, der alles sieht und am Tag des Jüngsten Gerichts das Buch des Lebens aufschlagen, die Sünden der Menschen aufzählen und sie dafür bestrafen wird. Und dann die Frage, was in diesem Buch unter meinem Namen stehen wird und ob ich Gott damit unter die Augen treten kann.
Und nicht zuletzt war da noch die Hölle als ultimativer Angstmacher.
Die ständige Thematisierung von möglichen Bestrafungen, die nicht nur kleine Einschnitte in meinem Leben bedeuten würden, sondern existenzieller Natur waren, führte bei mir zu einer tiefsitzenden Angst und einem vorauseilenden Gehorsam, der sich nur aus Furcht speiste, nicht aus Überzeugungen.
4. Gesundheit
Zum Glück war diese Überzeugung in meiner Gemeinde nicht verbreitet, doch aus etlichen Gesprächen mit anderen Aussteiger*innen weiß ich, dass sie vor allem in charismatischen Freikirchen sehr häufig vorkommt: Der Glaube daran, dass Krankheiten eine Folge fehlenden Glaubens sind. Es wird davon ausgegangen, dass Gott die Gläubigen mit Wohlstand und Gesundheit belohnt. Wird ein*e Christ*in also krank, bekommt eine Depression, leidet an Krebs oder einer chronischen Erkrankungen, wird davon ausgegangen, dass mangelnder Glaube, Zweifel oder zu wenig Gebet die Ursache sind. Zusätzlich zu den Symptomen der jeweiligen Krankheiten müssen sich Betroffene also nicht nur mit Vorwürfen und Selbstzweifeln auseinandersetzen, sondern auch noch die Kraft aufbringen, mehr und besser zu glauben, intensiver in der Bibel zu lesen und zu beten. Sie müssen gesunden, um zu beweisen, dass ihr Glaube stark genug ist.
In meiner Gemeinde dagegen wurden Krankheiten oft mit okkulter Belastung erklärt und damit falsch „behandelt“. Statt ärztlicher Hilfe bekamen die Personen Seelsorge, die bösen Geister wurden vertrieben und damit sollten sich auch die Symptome erledigen. Taten sie das nicht, steckte die okkulte Belastung wohl doch tiefer.
In beiden Fällen wird die Krankheit als Folge einer körperlichen oder psychischen Funktionsstörung verleugnet und stattdessen als geistliches, selbst zu verantwortendes Versagen gedeutet.
5. Spenden
In christlichen Gemeinden ist es üblich, seinen „Zehnten“ zu spenden (gemeint sind damit 10 % des Nettoverdienstes). Vor allem in Freikirchen ist diese Spende von elementarer Bedeutung, da sie sich ohne Kirchensteuern finanzieren und damit vom Geld ihrer Mitglieder abhängig sind. Darüber hinaus gab es bei uns aber noch etliche weitere Spendenmöglichkeiten für Gemeindeprojekte, und auch in jedem Gottesdienst und vielen weiteren Veranstaltungen wurde zusätzlich Geld eingesammelt.
Während meiner Kindheit und Jugendzeit war Geld für mich ein ständiges Thema. Es war nie welches da und schon gar nicht übrig. Als Teenager nahm ich jeden Job an, der sich mir bot, um zumindest an manchen Aktivitäten mit meinen Freundinnen teilnehmen und mir Klamotten kaufen zu können, für die ich nicht verspottet wurde. Die ständigen Spendenaufrufe, die auch gerne mit einer Erinnerung an die Pflichtabgabe des Zehnten einhergingen, waren für mich purer Stress. Das fing sogar schon im Kindergottesdienst an. Dort bekam jedes Kind einen gestrickten Socken, in den es einen Teil seines Taschengeldes legen sollte. Am Ende des Jahres wurden die Strümpfe eingesammelt und das Geld ging an ein Kinderheim in Brasilien. Das Einsammeln wurde immer zelebriert: Die Kinder legten ihre Socken vorne auf einen Tisch und die Diakonisse, die den Kindergottesdienst leitete, prüfte sie mit einem kritischen Blick. Dann nahm sie ein prall gefülltes Exemplar hoch, hielt es uns vor die Nase und fragte staunend: „Hier ist ja viel Geld drin! Von wem ist denn dieser Strumpf?“. Stolz meldete sich das Mädchen neben mir und wurde gleich gelobt: „Das ist ja toll! Da könnt ihr euch alle eine Scheibe von abschneiden“. Ich schämte mich für die paar Pfennige, die in meinem Strumpf waren, und zwang mich im nächsten Jahr dazu, mehr hineinzulegen, um nicht negativ aufzufallen.
Gerade in christlich-fundamentalistischen Gemeinden kann geistlicher Missbrauch gut funktionieren. Denn die wortwörtliche Lesart der Bibel ist das Fundament dieses Glaubens. Und viele Bibelverse eignen sich dazu, Menschen zu unterdrücken und zu manipulieren.
Wollen Gemeinden Geld, können sich auf den Zehnten in der Bibel berufen. Wollen Sie Kontrolle und Gehorsam, sprechen sie von Gottes Strafe und der Hölle. Solange sich die Forderungen biblisch rechtfertigen lassen, gibt es keinen Anlass zu zweifeln. Doch die Folge ist häufig, dass sich Menschen aufgrund des Druckes von außen unterordnen, an sich selbst (ver-)zweifeln und sich und ihre Identität verleugnen.
Comments