Wenn der Glaube anerzogen wird
Zu den Grundüberzeugungen von fundamentalistischen Christ*innen gehört die individuelle Bekehrung eines Menschen als Voraussetzung für seine Errettung durch Gott. Niemand kann sich bloß durch die Geburt in eine christliche Familie oder eine Taufe im Babyalter seiner Erlösung sicher sein. Erst wenn ein Mensch sich bei vollem Bewusstsein für Gott entscheidet, ihm sein Leben übergibt, christlich gesprochen "wiedergeboren" wird, wird er errettet. Darum ist es immens wichtig, Kinder so früh wie möglich, an den christlichen Glauben heranzuführen, damit dieser Wurzeln schlagen kann, bevor Skepsis, Zweifel oder alternative Denk- und Glaubensmodelle in Spiel kommen. Indoktrination nennt man laut Duden die "Beeinflussung von Einzelnen oder ganzen Gruppen der Gesellschaft im Hinblick auf die Bildung einer bestimmten Meinung oder Einstellung" - und genau diese wird in christlichen Gemeinden häufig betrieben. Kinder werden von klein auf manipuliert, ihnen werden nur ausgewählte Informationen zur Verfügung gestellt, während sie von anderen gänzlich ferngehalten werden. Durch das ständige Wiederholungen von Bibelgeschichten, Versen, Glaubenssätzen und Liedern verfestigen sich die Inhalte und prägen sich ein.
Wie genau Kinder in den christlichen Glauben "hinweinwachsen" möchte ich im folgenden aufzeigen.
1. Wiederholung der christlichen Inhalte
Seit ich denken kann, gab es in meiner Familie eine feste Einrichtung: Abends, bevor wir schlafen gingen, wurden alle zum "Singen und Beten" zusammengerufen. In Schlafanzügen saßen wir auf dem Teppichboden und lauschten einer biblischen Geschichte, die uns vorgelesen wurde. Gemeinsam sangen wir "Welch' ein Freund ist unser Jesus" oder "Vergiss nicht zu danken dem ewigen Herrn" und zum Abschluss wurde für die Nacht gebetet. Meine Eltern waren große Fans von Kees de Kort, wir besaßen nicht nur die bebilderte Kinderbibel, sondern hatten auch etliche kleine Heftchen in Pixibuch-Format zu den wichtigsten Personen der Bibel. Noch bevor ich zur Schule kam, kannte ich alle relevanten Namen der Bibel, konnte die Geschichten von Noah, Daniel und Zachäus nacherzählen und etliche Stellen der Kinderbibel auswendig mitsprechen, so häufig hatte ich sie gehört. Doch nicht nur zuhause wiederholten sich immer wieder dieselben Namen und Geschichten. Schon für Kinder ab drei Jahren gab es in meiner Gemeinde eine Kinderbetreuung. Samstags besuchte ich die Jungschar, sonntags den Kindergottesdienst und die Schulferien verbrachte ich auf christlichen Freizeiten. Überall lief es nach demselben Schema ab: Singen, Bibelgeschichte, beten - und mit etwas Glück wurde anschließend noch gespielt. Egal ob Jesus' Geburt, seine Kreuzigung, die Geschichte von Abraham oder die Verwandlung von Saulus zu Paulus - jede einzelne Geschichte mitsamt ihrer fundamentalistischen Deutung kannte ich mit der Zeit in- und auswendig. Immer wieder wurden im Kindergottesdienst dieselben Fragen an uns gerichtet "Wofür ist Jesus am Kreuz gestorben?" -> "Für unsere Sünden." "Warum ist er gestorben?" -> "Weil er uns liebt". Im Chor gaben wir die richtigen Antworten - und selbst wenn wir sie nicht kannten, wussten wir, dass der Name "Jesus" darin vorkommen sollte.
Besonders beliebt war auch das Spiel Bibelwettaufschlagen, bei dem die Diakonissen eine Stelle aus der Bibel vorgaben - z. B. 2. Samuel 1, 2 - und das Kind, das den Vers am schnellsten in seiner Bibel fand und vorlas, gewann.
Wurden die Inhalte anfangs noch auf spielerische Weise vermittelt, mussten wir im Konfirmationsunterricht Woche für Woche neue Bibelstellen und die entsprechenden Erklärungen aus dem Kleinen Katechismus von Luther auswendig lernen. Es galt Choräle wie "Jesus ist kommen" von Paul Gerhard aufzusagen und die biblischen Bücher in der richtigen Reihenfolge aufzuzählen ("In den alten Bundes Schriften merke an der ersten Stell': Mose, Josua und Richter, Ruth und zwei von Samuel ..."). Auf Jugendfreizeiten wurden für aus dem Gedächtnis zitierte Bibelverse Punkte verteilt, und spätestens als Erwachsene*r war es ohnehin eine Selbstverständlichkeit, mithilfe von Bibelversen argumentieren und diskutieren zu können.
Das ständige Wiederholen von Geschichten, Liedern und Bibelversen hat dazu geführt, dass sich die Inhalte in mir festsetzen konnten, noch bevor ich in der Lage war, selbstständig zu denken. Sie wurden zum Fundament für alles, was ich danach (kennen)lernte. Was nicht auf das Fundament passte, konnte ich nicht annehmen. Zudem konnte ich auf ein großes Repertoire an auswendig gelernten Antworten zurückgreifen, sobald Zweifel laut wurden. Und wenn gar nichts mehr half, war da ja immer noch die Angst vor der Hölle, die mich immer wieder am Glauben festhalten ließ.
Und auch der folgende Punkt spielte eine große Rolle:
2. Zurückhalten von Informationen
Alles, was auch nur entfernt Zweifel am christlichen Glauben und am Wahrheitsgehalt der Bibel auslösen könnte, wurde von uns Kindern abgeschirmt. Dazu gehörten insbesondere die Evolutionstheorie, andere Glaubensformen sowie "weltliche" Einflüsse.
Vor allem die Idee, dass die Natur, die Tiere und der Mensch sich über einen langen Zeitraum hinweg weiterentwickelt haben, schien meinen Eltern und der Gemeinde extrem gefährlich. Schenkt man der Bibel Glauben, kann die Welt lediglich 6.000 Jahre alt sein und die Evolutionstheorie damit keinen Bestand haben. Doch anstatt diese Widersprüche zu kommunizieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wurde uns jegliche Beschäftigung mit diesem Thema verboten. Filme und Bücher, in denen Dinosaurier auftauchten, waren nicht erlaubt, schließlich war ihre Existenz mit der Bibel schwer zu vereinbaren. Genauso wurde über Fossilien- oder Gesteinsfunde, die auf ein hohes Alter der Erde schließen ließen, wahlweise hinweggesehen oder es wurde behauptet, Gott hätte diese "Spuren" bei der Erschaffung der Welt selbst in den Erdschichten hinterlassen (Warum? Weil die Wege des Herrn unergründlich sind.). Mit Sternen und dem Universum beschäftigte man sich lieber gar nicht erst und stempelte den gesamten Themenbereich als astrologischen Unsinn ab. Die Serie "Es war einmal der Mensch" war streng verboten, weil schon im Vorspann der Urknall und die Entwicklung der Arten zu sehen war. Die Evolutionstheorie konnte einfach nicht stimmen, also ignorierten die Erwachsenen sie und schützen ihre Kinder vor dem gefährlichen Gedankengut.
Generell konnte Bildung immer zu einem Problem werden. Während meiner christlichen Zeit erfuhr ich so gut wie nichts über die Entstehung der Bibel. Dass die Bibel Wort für Wort vom Heiligen Geist inspiriert und diktiert wurde, war die einzige Information von Belang. Wie die einzelnen Bücher entstanden sind, dass voneinander abgeschrieben wurde, welche "Beweise" es für Jesus' Existenz eigentlich tatsächlich gibt, und wie über die Auswahl der Bücher in der Bibel entschieden wurde - das alles war nicht nur nebensächlich für den Glauben, es war sogar besser, wenn man sich nicht zu intensiv damit beschäftigte. Am Ende resultierten daraus nur Fragen - und die waren eigentlich immer schlecht.
Auch die Beschäftigung mit anderen Religionen oder philosophischen Theorien wurde nicht gerne gesehen. Ich kenne etliche (ehemalige) Christ*innen, die vom Religionsunterricht in der Schule befreit wurden oder Philosophie nicht wählten durften, weil die Lehrinhalte als Alternativen zum Christentum wahrgenommen wurden.
Besonders wichtig war es meinen Eltern auch, mich von den "weltlichen" Einflüssen fernzuhalten. Ihnen war es lieber, wenn ich Kassetten mit christlichen Geschichten hörte und Romane über biblischen Figuren las. Andere Bücher wurden häufig auf ihre Inhalte geprüft, genauso wie Filme und Serien. Sobald darin nicht den christlichen Normen entsprechend gehandelt wurde, sprich: sobald es nicht völlig harmloser Content war, durften wir sie nicht lesen oder anschauen. Wurde geflucht, zu viel Haut gezeigt, mehrfach "Oh Gott" gesagt, moderne Musik gehört oder waren die Kinder frech, wurde der Fernseher umgehend ausgeschaltet. Meinen Eltern war es wichtig, dass wir keinen falschen Eindruck vom dem Leben "in der Welt" bekamen. Auf keinen Fall sollten wir denken, dass dort die Freiheit auf uns wartete oder ein Leben ohne Gott spaßig sein könnte. Schließlich waren all' diese Menschen verloren.
In ihren Augen war es für uns besser, innerhalb der strengen christlichen Grenzen zu leben und keinen Blick über die von ihnen errichteten Mauern zu werfen.
3. Das Thema Zeit
In meiner Gemeinde gab es jeden Tag ein anderes Angebot: Bibelstunde, Jungschar, Gebetskreis, gemeinsames Frühstück, Hauskreis, Gottesdienst, Jugendkreis - die Auswahl an Aktivitäten war riesig. Vor allem an den Wochenenden gab es ein vielfältiges Programm. Man verbrachte seine Freizeit in der Gemeinde, umgab sich mit anderen Gläubigen, mit denen man gemeinsam in der Bibel lesen, diskutieren und seine Beziehung zu Gott reflektieren konnte. Der Glaube stand immer im Mittelpunkt - wann auch immer man zusammenkam, wurde die Bibel aufgeschlagen und über Gottes Wort gesprochen. Wir diskutierten über das Wirken des Heiligen Geistes, die richtige Art zu beten oder den Missionsbefehl. Und beim nächsten Treffen taten wir dasselbe einfach nochmal. Wir sangen immer wieder dieselben Lieder, wiederholten die Refrains, bis sie keinen Sinn mehr ergaben, und freuten uns auf das nächste Zusammentreffen. Und wenn wir gerade nicht in der Gemeinde waren, wurden wir dazu angehalten, "Stille Zeit" zu machen und alleine die Bibel zu studieren, zu beten und Gott zu ehren. Die wiederholte Beschäftigung mit denselben Inhalten war ein fester Bestandteil des Christseins. Wenn möglich, sollte die gesamte freie Zeit dem Glauben und Bibelstudium gewidmet werden, immer in der Hoffnung, dass Gott einen neuen Denkanstoß gibt oder eine direkte Botschaft an die lesende Person hat.
Als Teenager habe ich "mich bekehrt" und mich für den christlichen Glauben entschieden. Ich dachte, dass ich das aus einer tiefen inneren Überzeugung heraus tat, aus der Erkenntnis, dass Gott wirklich existiert und dem Wunsch, ihm mein Leben zu übergeben. Völlig freiwillig. Angesichts der jahrelangen Indoktrination durch meine Eltern und der Gemeinde war diese Annahme geradezu lächerlich. Den christlichen Glauben habe ich mir als Kind nicht ausgesucht, er wurde in mich hineingepflanzt und er schlug seine Wurzeln, noch bevor ich mich für ihn entscheiden konnte. Ich nahm meine Umwelt von Kindesbeinen an gefärbt durch die Brille des Glaubens wahr und lernte weder Argumente gegen ihn noch Alternativen kennen. Von Entscheidungsfreiheit kann hier keine Rede sein.
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