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AutorenbildMaren Kahl

Ohne Glauben leben

Aktualisiert: 10. Apr. 2023

Was man gewinnt, wenn man sich vom Glauben verabschiedet

Warum der Ausstieg aus dem christlichen Leben - aus dem Glauben, den Denkmustern und den sozialen Strukturen einer Gemeinde - nicht leicht ist, habe ich in diesem Beitrag beschrieben. Es kostet viel Kraft, sich zu lösen, und neue Wege einzuschlagen. In diesem Blogpost möchte ich auf die Zeit nach dem Ausstieg eingehen und darüber schreiben, was ich gewonnen habe, seit ich ohne den christlichen Glauben lebe.


1. Selbstvertrauen


Der erste Schritt, der mich vom fundamentalistisch-christlichen Glauben entfernt hat, fand noch im Rahmen des wortwörtlichen Verständnisses der Bibel statt. Ich zweifelte nicht an ihrem Wahrheitsgehalt , sondern an der Liebe Gottes. Über viele Jahre hinweg bereitete mir die christliche Heilsgeschichte Kopfzerbrechen; ich verstand sie einfach nicht. Besonders auf die folgenden Fragen konnte ich keine Antwort finden:

  1. Die Herkunft des Bösen: Woher kommt das Böse? Existiert es schon genauso lange wie Gott selbst? Und wenn ja: Warum besiegt Gott es nicht einfach und beendet damit alles Leid? Und wenn nein: Hat Gott es etwa erschaffen?

  2. Die sündige Natur des Menschen: Offensichtlich wurde der Mensch mit einem Hang zum "Ungehorsam" bzw. zur "Sünde" geschaffen. Denn als Adam und Eva die Wahl hatten, entschieden sie sich für die Frucht und gegen Gottes Gesetz. Die Sünde liegt in der von Gott geschaffenen Natur des Menschen. Um ein gottgefälliges Leben zu führen, muss er sich ständig selbst verleugnen und seine natürlichen Bedürfnisse zurückstellen. Und obwohl er sich seine Natur nicht ausgesucht hat, soll er dafür büßen.

  3. Die Notwendigkeit von Opfern: Wieso liegt der Beziehung zwischen Gott und den Menschen die Logik zugrunde, dass Sünde nur durch Blutvergießen gesühnt werden kann? Sollte ein allmächtiger Gott grausame und inhumane Regeln nicht auch verändern können?

  4. Erpressung: Nachdem wir Menschen durch Gottes Willen geboren und in die Welt gesetzt werden, gibt es genau einen Weg, in den Himmel zu kommen: Gott zu lieben und zu ehren. Wenn wir das nicht tun, werden wir für immer verdammt. Abgesehen davon, dass es mich immer gewundert hat, warum ein allmächtiger Gott die Liebe von uns Menschen so nötig hat, klingt dieses Konzept für mich nach Missbrauch seiner Macht und Erpressung.

Ich könnte in diesem Kontext noch etliche weitere Themen und Fragen auflisten, aber dies sollte erstmal genügen, um aufzeigen, dass ich die christliche Heilsgeschichte nicht mit der Vorstellung eines liebenden Gottes vereinbaren konnte. Für mich passte der Anspruch der Allmächtigkeit Gottes nicht zu den starren und brutalen Gesetzen der Vergebung. Zudem kannte ich zwar natürlich ein schlechtes Gewissen und Reue, doch ich fühlte mich als Mensch an sich nicht schuldig. Was konnte ich für meine menschlichen und natürlichen Bedürfnisse?

In der Annahme, Gottes Wort sei vollkommen und wahr, versuchte ich lange, meine Zweifel nicht zu ernst zu nehmen. Ich wollte daran glauben, dass Gott weise, liebend und gerecht war. Ich müsse vertrauen, so sagte man mir in der Gemeinde. Und so versuchte ich mich mit der Tatsache zu arrangieren, dass mein Verstand Gott und seine Wege nicht in Gänze begreifen konnte. Dass ich die Gerechtigkeit in Gottes Plan einfach nicht verstand, weil meine Intelligenz nicht ausreichte. Ich diskutierte mit Gemeindemitgliedern, las Bücher zu den Themen, die mich beschäftigten, und merkte mir die Antworten, lernte sie quasi auswendig, ohne sie zu verstehen, um meiner eigenen Skepsis etwas entgegensetzen zu können. Doch meine Fragen blieben. Und der Wunsch wuchs, die Lehren, die grundlegend für den christlichen Glauben sind, wirklich zu verstehen. Nach und nach ließ ich meine Zweifel zu, ich begann meinem eigenen Gerechtigkeitsempfinden zu vertrauen und verglich Gottes Handeln in der Bibel mit meinen eigenen Werten. Und kam dabei zu dem Schluss, dass ich den Gott aus der Bibel nicht nur nicht lieben konnte, sondern es auch gar nicht wollte. Ich wollte keinen Gott verehren, der den Menschen erst schafft und ihn dann verdammt, der ihn nur vergibt, wenn Blut fließt, und den ich lieben MUSS, wenn ich nicht in der Hölle landen möchte. Statt mich und meine geistigen Fähigkeiten zu verleugnen, begann ich, mir selbst, meinem Verstand, meinem Urteilsvermögen, meiner Intuition und meinem Wertesystem zu vertrauen. Für mich war dies der wichtigste Schritt in meiner Abkehr vom Glauben. Darauf aufbauend begann ich später den Wahrheitsgehalt der christlichen Religion an sich anzuzweifeln. Statt Selbstverleugnung lernte ich Selbstvertrauen.


2. Nächstenliebe und Offenheit


Eigentlich ist Nächstenliebe ein wichtiges Merkmal des Christentums. Doch ich muss sagen, dass ich diese vor allem innerhalb christlicher, weitestgehend homogener Gruppen erlebt habe. Kontakt zu un- oder andersgläubigen Menschen diente in erster Linie dem Zweck der Mission. Freundschaften wurden hier eher selten gepflegt. Zwar war "Liebe den Sünder, aber hasse die Sünde" ein typischer Leitspruch im Umgang mit nichtchristlichen Personen, doch in der Realität, wurden Menschen, die nicht den christlichen Normen entsprechend lebten, diskriminiert. Geschiedene oder Personen, die unverheiratet zusammen lebten, durften in Gemeinden nicht mitarbeiten, Homosexuellen wurde Seelsorge (oder in schlimmeren Fällen Konversionstherapie) empfohlen und Transpersonen habe ich in meinem Gemeindeleben nicht mal kennengelernt, so als existierten sie gar nicht. Vor allem in Bezug auf Sexualität und Geschlecht findet in fundamentalistischen Kreisen häufig Diskriminierung statt - und das nicht nur innerhalb der Gemeinde, sondern auch außerhalb, wenn Christ*innen sich politisch gegen die Rechte dieser Menschen einsetzen (Stichwort: Ehe für alle, LGBTQIA+, Recht auf Abtreibung etc.). Dass man hier nicht von Nächstenliebe und nicht einmal von Toleranz sprechen kann, ist offensichtlich. Es kann hier keine Unvoreingenommen geben - schließlich sündigen diese Menschen in den Augen der Christ*innen und leben ein von Grund auf falsches Leben. Es entsteht unwillkürlich eine ablehnende Grundhaltung.

Für mich war es eine Befreiung, Bibelverse wie "Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so ist das ein Greuel und beide sollten des Todes sterben.“ (3. Mose, 20, 13) nicht mehr als richtungsweisend zu verstehen. Es war befreiend, Menschen nicht mehr aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung oder ihres vermeintlich sündigen Verhaltens beurteilen bzw. verurteilen zu müssen, nicht mehr den Anspruch zu haben, ihnen durch den Glauben weit voraus zu sein. Es wird nicht nur eine Begegnung auf Augenhöhe möglich, sondern auch ein inspirierender und bereichernder Austausch. Es können Beziehungen und Freundschaften entstehen, die den Horizont erweitern und neue Perspektiven zulassen.


3. Freiheit: Gedanken, Interessen und Hobbys


Während meiner christlichen Zeit war ich getrieben von Angst (erstens vor Gottes Strafe und zweitens vor dämonischer Belastung) sowie vom Druck, mein gesamtes Leben nach Gott ausrichten zu müssen. Wenn ich etwas "Verbotenes" tat, hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich es nicht tat, das Gefühl, etwas Schönes oder Interessantes zu verpassen. Als Teenager hörte ich gerne die Toten Hosen und mochte besonders den Song "Paradies". Gleichzeitig wusste ich, dass er Gott nicht gefallen würde, und sortierte die Kassette aus. Genauso überkam mich irgendwann die Reue, dass ich mir die Ärzte-CD "Wir wollen nur deine Seele" gekauft habe, auf dessen Cover das Handzeichen der Teufelshörner zu sehen war, und verschenkte sie. Stattdessen gab ich mir Mühe, christliche Musik gut zu finden. Ich las heimlich den ersten "Harry Potter"-Band, liebte ihn und hörte dann auf weiterzulesen und griff stattdessen zu christlichen Romanen. Ich schaute mit meinen Freundinnen Horrorfilme und bat Gott danach um Vergebung. Ich schlich mich nachts aus dem Haus, um in die Disco zu gehen, rauchte, trank Alkohol und fühlte mich dann wieder schlecht, weil das alles so gar nicht christlich war. Alles Schöne war eng mit einem schlechten Gewissen und dem Gefühl von Reue verknüpft und es hat nach meinem Gemeindeausstieg lange gedauert, Freude tatsächlich einfach nur als Freude zu empfinden.

In meinem Kopf waren über die Jahre so viele Mauern aus Angst und Verboten errichtet worden, die ich erst mühsam einschlagen musste. Doch als sich dann die Erkenntnis einstellte, dass ich über alles nachdenken darf, was mir in den Kopf kommt, dass ich theoretisch alle Bücher lesen kann, die mich interessieren, dass ich die Musik hören darf, die mir gefällt und dass ich Hobbys ausüben kann, die mir guttun ... - das war das für mich unglaublich befreiend. Ich entdeckte meine Liebe zu Romanen und mein Interesse für andere Menschen, ihre Geschichten, Ansichten und Lebensmodelle, ich studierte Literatur und hörte "Paradies" einfach so häufig, bis es mir aus den Ohren kam.


Der Glauben hat mein Leben in vielerlei Hinsicht stark eingeengt: Ich hatte das Gefühl, mich gedanklich stark eingrenzen zu müssen, Zweifel, Fragen und Ideen nicht zulassen zu dürfen und mich von "gefährlichen" Gedanken fern halten zu müssen. Und auch im sozialen Kontext waren die Grenzen eng gezogen, ein offener Umgang mit Un- oder Andersgläubigen war unmöglich.


Der Abschied vom Glauben hat mir vor allem eins geschenkt: Freiheit.

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